12. Januar 2011

Karma



Es war einmal ein unschuldiges, wohlerzogenes Mädchen, das nach Hamburg auszog, um ihre Träume zu verwirklichen. Doch die Stadt der Sünde verführte das kleine Mädchen dazu, sich der Versuchung hinzugeben. Aus dem Mädchen wurde eine Gesetzlose ohne jeglichen Skrupel...

Wiederholt das Wort "Skrupel" ein paar mal im Kopf. Was für ein absonderliches Wort! Nur zwei Vokale! Es klingt auch so lustig: Skrupel. Skupel. Skrupel-... Das Wort ist selbst merkwürdiger als "Skorbut"...
Ich schweife ab.

Ich bin ja ein etwas überkorrekter Mensch. Ich halte anderen Menschen wie selbstverständlich die Tür auf, warte immer bis alle ausgestiegen sind, bevor ich in den Bus steige und lasse anderen immer den Vortritt. Nach dem Bananen-Vorfall ging ich tatsächlich eine kurze Weile lang auch bei Rot über die Straße, wenn kein Auto kam. Aber dann hörte ich in einer Spiegel-Reportage, dass man sich dadurch strafbar macht. Jetzt bin ich wieder der einzige Volltrottel, der wartet, bis es Grün wird.

Das Einzige, wogegen ich mich bisher ein kleines bisschen auflehnte, war die deutsche Bahn. Anstelle eines gültigen Tickets für den Weg zwischen meinem zu Hause und der Arbeit (2 Mini-Zonen, 65 EUR/Monat) fuhr ich bis jetzt immer mit einer CC-Karte in der Gegend herum (3 Ringe (ganz Hamburg), 34 EUR/Monat). Die CC-Karte hat natürlich einen Haken: Sie ist Mo-Fr zwischen 6 und 9 Uhr Morgens und 16 und 18 Uhr Abends ungültig. Da ich aber um 9 zu arbeiten anfange, nahm ich jeden Morgen um 8.20 Uhr den Bus. Das bedeutete (dramatische Musik - ihr wisst schon, dieses Tä-tä-tääääääääää!!!) ich fuhr jeden Morgen schwarz. 2.5 Monate lang!

Gestern jedenfalls wurde ich mit meiner CC-Karte im Bus erwischt. Ich setzte mich genau der Kontrolleurin in Zivil gegenüber und die wollte meine Fahrkarte sehen. "Ja, dieses Ticket ist ungültig.", sagte sie. Das wusste ich. "Was echt?", sagte ich erstaunt. Und dann begann es:

Le sarahtique théatre du mensonge

Ich versuche mal meine Lügen chronologisch aufzuzählen:

- Ich bin erst seit Samstag in Deutschland
- Ich habe keinen Wohnsitz hier
- Ich habe eine Wohnadresse in der Schweiz
- Ich habe kein Bankkonto hier
- Ich wohne bis Freitag im Hostel
- Ich ziehe Freitag zu einem Freund
- Ich fange 09.30 Uhr an zu arbeiten
- Der Mann am Schalter hat gesagt, das ist die Karte die ich brauche (dazu die Jedi-Handbewegung. Es war zweckslos.)
- Es tut mir wirklich Leid

Und das alles in ungefähr fünf Minuten, während meine Personalien erfasst wurden. Zu Gute kamen mir definitv die Tatsache, dass ich die vorgezeigte CC-Karte tatsächlich erst diesen Samstag gekauft hatte, dass ich auf dieser seit einem Jahr nie meine Adresse eingetragen hab, dass ich eine Schweizer Identitätskarte habe, dass auf der CH-ID keine Adresse drauf steht, dass die Kontrolleurin sehr freundlich und verständnisvoll war und dass ich sehr freundlich und verständnisvoll war. Und kooperativ.

Meine Daten wurden notiert und aufgenommen (ich schätze mal, zukünftige Werbeschriften des HVVs landen ab jetzt in Rüti) und ich wurde ohne Bussgeld entlassen. Dafür versprach ich, meine Fahrkarte in ein korrektes Ticket umwandeln zu lassen, oder Morgens, wenn ich den Bus vor 9 Uhr nahm, eine Fahrkarte zu lösen.

Im ersten Moment war ich stolz darauf, entkommen zu sein. Vielleicht hätte ich mich auch bei einer Leibesvisitation im KZ irgendwie rausreden können. Vielleicht habe ich mich im früheren Leben mal aus einer brenzligen Situation, bedroht von Revolver, Degen, Hellebarde oder Katapult herausreden können. Doch der Stolz über meine Geistesgegenwärtigkeit so früh am Morgen und das überaus gelungene Lügengebilde wich schnell der Angst. Was, wenn sie meine Daten überprüfen und herausfinden wo ich wirklich wohne? Was, wenn sie mir eine Rechnung schicken? Was, wenn ich deswegen vor Gericht muss? Ich habe eine Amtsperson angelogen, das ist doch bestimmt ein Kavaliersdelikt! Oder ein schlimmes Staatsvergehen! Oder Hochverrat! Ich werde öffentlich gehängt!

Meine zuerst cool scheinende Gesetzlosigkeit lastete bald wie ein schwerer Stein auf mir. Was, wenn ich eine dreimal so hohe Busse (wieviel beträgt eigentlich eine Schwarzfahrbusse in HH? 160 EUR? 120 EUR? Ich weiß es nicht) zahlen muss, weil sie herausgefunden haben, dass ich gelogen hab?

In der Mittagspause schleppte ich mich und meine Sündenlast zu Edeka, um mir ein Brötchen zu kaufen. Auf dem Weg dahin vernahm ich über Dream Theater hinweg plötzlich eine Stimme. "He! He, Sie da! He!"
"Hallo, Gewissen?", fragte ich.
"He, entschuldigen Sie!", sagte die Stimme und ich ging ein paar Schritte zurück zu einem Hauseingang. Dort stand ein sehr alter und offenbar blinder (wenn ich die Armbinde richtig erkenne und ob der Tatsache dass er bei schwer bewölktem Himmel eine Sonnenbrille trägt) Mann am oberen Ende der Treppe die nach dem Foyer in den ersten Stock führte.
"Können Sie mir kurz helfen?", fragte der blinde Mann, der mich wohl zurückkommen gehört hatte.
"Ja, selbstverständlich, natürlich.", sagte ich und eilte zu ihm.
"Könnten Sie mir das bitte heruntertragen?", fragte er und meinte wohl die Gehhilfe mit Rädern, die hinter ihm stand. "Natürlich.", sagte ich und packte das sperrige Ding. Er tastete in der Luft nach dem Treppengeländer und ich stellte das Gerät kurz ab, um mit der freien Hand helfen zu können. "Nein, nein, ich kann das schon, lassen Sie das.", reklamierte er. Okay..., dachte ich und trug das schwere Gerät die Treppen runter. Unten angekommen wartete ich, bis er ebenfalls hinkam und stellte das Gerät vor seine Füsse. Ich griff ihm dann unter den Arm, obwohl er sich darüber beschwerte und meinte, er könne das von selbst) und half ihm die Gehhilfe zu finden. Er bedankte sich knapp und fuhr / ging davon.

Tja. Ich stand einen Moment da. Ist mein Karma jetzt wieder ausgeglichen?
Nein, definitiv nicht. Es kommen bestimmt wieder Chancen.

Tatsächlich liess ich die nächste Chance verstreichen. Ein Mann stand am U-Bahn Eingang und fragte, ob jemand eine Tageskarte über hätte. Das wär meine Chance gewesen, ihm eine Fahrkarte zu kaufen, oder eine Tageskarte, wenn er denn so dringend eine braucht. Damit hätte ich die Lügen vom Morgen wieder aufgehoben, dem HVV sogar etwas Gewinn gebracht und mein gutes Karma restauriert.
Aber ich habe es nicht gemacht.
Ich glaube nämlich nicht an Karma.

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